Der Erste Weltkrieg im Saarland

„Wir freuten uns. Es gab einen Tag schulfrei. Alle Einwohner kamen sich wichtig vor. Die Stadt wurde im Aufmarsch gegen Frankreich das Hauptquartier der kronprinzlichen Armee. Wir Schüler liefen alle auf die Bahnhofsstraße. Der Beginn des Weltkriegs erschien uns überhaupt wie eine Serie von galanten Abenteuern des Kronprinzen, der von einer unermütlichen Potenz behaftet schien.“[Anm. 1]

Mit diesen Worten kommentierte der damals 12-jährige Max Ophüls (1902-1957) den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Juli 1914. Ebenso wie der Saarbrücker Film- und Theaterregisseur wussten viele Saarländer zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was auf sie zu kommen würde.

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Zur Geschichte des Ersten Weltkriegs im Saarland und den angrenzenden Gebieten

Ein Überblick

Auf dem Gebiet des heutigen Saarlandes waren die Auswirkungen des Kriegsgeschehens an der Westfront in den Jahren 1914–1918 wie in keiner anderen deutschsprachigen Region spürbar. Durch die unmittelbare Nähe zu Frankreich trat der Dualismus von Kriegsbegeisterung und Ablehnung hier besonders stark zu Tage, da sich große Teile der Bevölkerung im Juli 1914 einerseits mit erneuten Annexionsbestrebungen des sogenannten Erbfeindes konfrontiert sahen und in der – von der Presse bestärkten – Überzeugung in den Krieg zogen, einen notwendigen Verteidigungskrieg zu führen.

Zeitgenössische Postkarte[Bild: europeana1914-1918.eu]

Andererseits gab es in den grenznahen Städten und Dörfern, allen voran in Lothringen und im Elsass, auch Menschen, die schlagartig gezwungen waren, kulturelle, wirtschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen zu ihren Nachbarn abzubrechen und ihre interkulturelle Identität zugunsten des Kaiserreichs aufgeben mussten. Auch rief der Krieg in ländlich geprägten Regionen große Existenzängste hervor und wurde, nicht zuletzt aufgrund der laufenden Ernte, keineswegs mit Begeisterung angetreten. In Saarbrücken, dem kulturellen und politischen Zentrum des preußischen Teil des Saarlandes, hingegen „zeigte sich doch eine zuversichtliche patriotische Stimmung.“[Anm. 2] Hier waren sich die Redakteure der Saarbrücker Zeitung am 1. August 1914 sicher, dass „die Wogen vaterländischer Begeisterung hoch gehen“[Anm. 3] würden. Tatsächlich meldete das in Saarbrücken stationierte 70. Infanterieregiment am 5. August, dass es keine weiteren Freiwilligen mehr aufnehmen könne.[Anm. 4]

In den darauffolgenden Tagen avancierte die heutige Landeshauptstadt aufgrund ihrer verkehrsgünstigen Lage zu einem Dreh- und Angelpunkt der Mobilisierung. Mehrere tausend Soldaten passierten in den ersten Kriegstagen den Bahnhof und wurden mit Liebesgaben und Spenden von den Anwesenden feierlich verabschiedet. Neben den Militärstützpunkten in Saarbrücken und Forbach, befanden sich weitere große Garnisonen in Merzig und Saarlouis. Als „wichtigster militärischer Vorposten des Deutschen Reiches“[Anm. 5] kann jedoch Metz bezeichnet werden.

Zeitgenösissche Postkarte der Kaiser Wilhelm-Kaserne in Metz (Caserne Ney)[Bild: Unbekannt (ca. 1890) [gemeinfrei]]

Die im Aufmarschgebiet befindliche Festungsstadt war seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 Teil des Kaiserreichs und beherbergte bereits vor dem Kriegsausbruch eine enorme Zahl an preußischen Soldaten und Offizieren, die die Integration der Bevölkerung nahezu unmöglich gemacht hatte. Unmittelbar zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde der Identitätskonflikt offen ausgetragen, indem die Verwendung der französischen Sprache strafrechtlich verfolgt, zweisprachige Schilder an Restaurants und Geschäften entfernt und Straßen umbenannt wurden. Etwa 200 Personen gerieten aufgrund frankreichfreundlicher Äußerungen oder Aktionen in Haft, weitere 15 000 verließen angesichts der bevorstehenden Kampfhandlungen die Stadt und flüchteten entweder nach Frankreich oder in entfernte Gebiete des Deutschen Reichs.

Öffentliche Warnung vor Spionen in Saarbrücken.

Die Angst vor sogenannten Frankreichfreunden und Spionen war nicht nur im Elsass allgegenwärtig. Sie zeigte sich auch in dem zur bayrischen Pfalz gehörenden Teil des heutigen Saarlandes und schlug sich in zahlreichen Verhaftungen und einzelnen Gewalttaten nieder. Darüber hinaus kam es zu diesem Zeitpunkt nahezu überall zu Hamsterkäufen und zu Plünderungen der Sparkonten. Diese hektischen Reaktionen der Bevölkerung waren auf der einen Seite Teil der ohnehin sehr angespannten Atmosphäre, lassen sich auf der anderen Seite aber auch auf erhebliche Versorgungsprobleme zurückführen, die die Anwesenheit des Militärs und die vorrübergehende Stilllegung des Güterverkehrs mit sich brachten.

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Sammelt Brennessel! 1918.[Bild: Archiv des Saarlandes/Plakat542]

In Saarbrücken wurden deshalb bereits im August 1914 vier Volksküchen eingerichtet. Dort führte die Lebensmittelknappheit während des ersten Kriegsjahres zu einem Preisanstieg von 100 %. Aus diesem Grund kauften viele Städter ihre Lebensmittel bald auf den Märkten in der Pfalz. Außerdem wusste man sich mit der Wiederverwertung von Fleischresten der Armeeabteilungen in Saarburg und Mörchingen sowie mit der Herstellung neuartiger, chemischer Ersatzstoffe zu helfen. Um die vorhandenen Nahrungsmittel an die Bevölkerung zu verteilen, hatten sich 1915 in Saarbrücken verschiedene preußische Zentralausschüsse formiert, wohingegen in den pfälzischen Gebieten größtenteils Kommunalverbände und Bürgermeister für die Lebensmittelrationierung zuständig waren. Im Laufe des sogenannten Steckrübenwinters 1916/17 wurden die genannten Behelfsmaßnahmen verboten, sodass die Sicherstellung der staatlich festgelegten Rationen in den Städten nicht mehr gewährleistet werden konnte. Tauschgeschäfte und Schmuggel zwischen den preußischen und pfälzischen Regionen waren die logische Konsequenz und stellten noch bis weit nach dem Krieg ein zentrales Problem im Saarland dar. [Anm. 6]

Die Dillinger Hütte.[Bild: Bundesarchiv [CC-BY-SA 3.0]]

Weitere Schwierigkeiten ergaben sich aus den staatlichen Zusatzleistungen für die zahlreichen an der Saar angesiedelten Arbeiter. Ihr Anteil an der Bevölkerung war durch die Eisenhütten und Bergwerke in Wiebelskirchen, Friedrichsthal, Püttlingen, Sulzbach, Burbach, Dudweiler, Schiffweiler, Quierschied, Göttelborn sowie im Raum Merzig-Wadern, Bexbach, Saarlouis, St. Ingbert, St. Wendel und Völklingen besonders hoch. Schwer- und Schwerstarbeiter dieser kriegswichtigen Produktionsstätten wurden über den gesamten Kriegszeitraum hinweg so gut es ging mit zusätzlichen Mehl-, Butter-, Milch- und Fleischrationen bedacht. Die unterschiedliche Umsetzung dieser Maßnahmen durch die jeweilige Verwaltung sorgte innerhalb der Arbeiterschaft für Differenzen, die die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts begonnene Politisierung der Arbeiter weiter vorantrieb. Ab März 1915 kam es sowohl in privaten als auch in staatlichen Gruben regelmäßig zu Beschwerden der Gewerkschaften und Arbeiterausschüsse, die von Streiks und Arbeitsverweigerung der Belegschaften begleitet wurden. Dass sie mit ihrem Eintritt für eine bessere Versorgung, höhere Löhnen und Kürzungen der Arbeitszeit in den preußischen Bergwerken partielle Erfolge erzielen konnten, spiegelt ihr angewachsenes Selbstbewusstsein als kriegswichtige Arbeitskräfte wider.

Lebensmittelzusatzkarte für Bergleute und Glasmacher in Saarbrücken.[Bild: Archiv des Saarlandes/HV R37]

Mit dem Bergbau kam dem heutigen Saarland gemeinsam mit Westfalen eine Schlüsselfunktion in den zu Stellungskriegen stagnierten Materialschlachten zu. Trotzdem waren 20 000 von insgesamt 50 000 Arbeiter zu Beginn des Krieges eingezogen worden oder hatten sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, sodass zunächst einzelne Werke zeitweise stillgelegt werden mussten und die Produktion gegenüber der Vorkriegszeit um die Hälfte zurückging. Der akute Arbeitskräftemangel wurde durch die Einstellung von pensionierten Bergarbeitern, Jugendlichen, Ungelernten und Frauen nach und nach kompensiert. Hinzu kamen im Laufe der Zeit insgesamt 2,5 Millionen zur Zwangsarbeit verpflichtete Kriegsgefangene. Ihr Anteil in der Schwerindustrie an der Saar differierte je nach Standort, war mit ca. 14% jedoch ebenso hoch war wie in westfälischen Werken. Sie wurden vorzugweise unter Tage eingesetzt und erhielten, wie auch die weiblichen Arbeiter, durchschnittlich die Hälfte des Lohnes eines gelernten Arbeiters.

Herstellungsprozess des deutschen Stahlhelms. Die Stahlplatten lieferte die Völklinger Hütte. [Bild: gemeinfrei]

Obwohl der Anteil der Saar-Hütten an der gesamtdeutschen Roheisen und Stahlproduktion vergleichsweise gering war, machten sich einzelne Unternehmen durch kriegswichtige Innovationen einen Namen. Die Brüder Hermann und Louis Röchling leiteten die Röchlinger Eisen- und Stahlwerke in Völklingen und hatten überregionalen Einfluss im deutschen Stahlwerksverband und in der Kriegsrohstoffabteilung in Berlin. Sie waren an der Transformation der preußischen Pickelhaube in den Stahlhelm involviert und produzierten ab 1915 nach eigenen Angaben 90 % der hierfür notwendigen Stahlplatten. Eine im Krieg vielfach genutzte neue Waffe im Nahkampf entwickelte das Saarbrücker Unternehmen Ehrhardt & Sehmer mit dem pressluftgetriebenen Minenwerfer, dem „Preßgasminenwerfer“. Auch die Dillinger Hütte spezialisierte sich auf Militärbedaf und produzierte hauptsächlich Panzerplatten für die Marine. Die Fenner Glashütte Hohlglas brachte Taschenuhrgläser, Kompaßgläser, Scheinwerfergläser für U-Boote, Laternen und Brillengläser für das Heer sowie Gebrauchsgegenstände wie Milchflaschen und Einmachgläser für die Zivilbevölkerung auf den Markt. Darüber hinaus beteiligten sich viele an der Granaten- und Geschossherstellung, darunter die Maschinenfabrik ehem. Keuth und Zenner GmbH und die Gesellschaft für Förderanlagen Ernst Heckel in Saarbrücken, die Firma Adt in Ensheim und Forbach sowie das St. Ingberter Eisenwerk, das allein 1915 15 000 Graugußgranaten ablieferte. [Anm. 7]

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Preßgasminenwerfer in Stellung.[Bild: zeno.org]

Anders als in den meisten anderen deutschsprachigen Gebieten waren die Bewohner des heutigen Saarlandes von der neuen Feuerkraft dieser hochindustrialisierten Waffentechnik direkt betroffen. Die ersten Bombenangriffe trafen Mitte August 1914 die Gemeinden Mettlach, Saarbrücken und St. Ingbert. Mehrere Hundert folgten und waren vor allem auf Eisenbahnlinien und Industriestandorte gerichtet. 1916 gehörte der ständige Kanonendonner und Fliegeralarm zur Tagesordnung in den Städten und Dörfern an der Saar, sodass 120 Flugabwehrkanonen und eine Jagdfliegerstaffel in St. Arnual eingerichtet werden mussten.[Anm. 8] Während die zivilen Opfer an der deutschen Heimatfront im Ersten Weltkrieg eher gering blieben, kamen die militärischen an der Westfront in der Grenzregion umso erschreckender zum Vorschein. 1 200 Kriegsopfer und Verwundete trafen am 17. August 1914 in Saarbrücken ein und mussten erstversorgt werden. Nach den Gefechten in den Ardennen waren die zwei hierfür eingerichteten Lazarette in Merzig sowie die Krankenhäuser in Mettlach und Beckingen restlos überfüllt. Weitere meist provisorische Krankenversorgungsstellen gab es in Saarbrücken, Völklingen, Birkenfeld, Idar, Trier, Speyer, Waldmohr, Kaiserslautern, Landau, Zweibrücken - nahezu in jeder größeren Gemeinde.

Die immer schwieriger werdende Situation in der Heimat hatte das zunehmende Schwinden der anfänglichen Kriegsbegeisterung zur Folge. In der Saarbrücker Ursulinenschule und der St. Ingberter Engelbertskirche hatte man 1915 und 1916 noch mit Nagelungen zugunsten der Kriegsopfer seinen Siegeswillen kundgetan, im Raum Neunkirchen/Sulzbach gab es dagegen umfangreiche Hungerdemonstrationen. Bis Mitte 1918 konnte die Bevölkerung noch zum „Durchhalten“ motiviert werden; im November bewirkte der Waffenstillstand von Compiègne jedoch nicht nur in Berlin den politischen Umsturz. An der Novemberrevolution beteiligten sich auch zahlreiche Bewohner der Städte und Dörfer an der Saar, indem unter anderem in Saarbrücken, Merzig, Ottweiler, Saarlouis, Dudweiler, Neunkirchen, Wiebelskirchen, Schiffweiler, Höchen, Landweiler-Reden und Heiligenwald Arbeiter- und Soldatenräte zur Ruhe und Ordnung aufriefen, in St. Ingbert sogar die Republik proklamierten.[Anm. 9]

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Territoire du Bassin de la Sarre: ‚Saarbeckengebiet‘ bzw. Saargebiet 1920-1935.

Erst mit dem Inkrafttreten des Friedenvertrags von Versailles am 10. Januar 1920 wurde diese politisch diffuse Lage geklärt und den Dörfern und Städten an der Saar gleichsam eine Sonderrolle zugeschrieben. Anders als die französisch besetzten Gebiete im Rheinland und der Pfalz waren sowohl die preußischen als auch die pfälzischen Gebiete als „Saargebiet“ fortan der Verwaltungshoheit des Völkerbundes unterstellt und sollten erst im Rahmen einer Volksabstimmung fünfzehn Jahre später über ihre nationale Zugehörigkeit entscheiden.

Dieser vorrübergehende Entzug der politischen Selbstbestimmung stieß in Verbindung mit der Kriegsschuldklausel und der wirtschaftlichen Notlage auf das Unverständnis vieler Einwohner des heutigen Saarlandes. Sie sahen sich – ebenso wie der überwiegende Rest der Bevölkerung des ehemaligen Deutschen Kaiserreichs – keineswegs als Schuldiger des Krieges.[Anm. 10]

Die territoriale Neugliederung richtete sich nach den ökonomischen Verhältnissen und legte den Grundstein für die heutige Ländergrenze. Die ehemals preußischen Kreise Saarbrücken, Saarlouis, Ottweiler, Teile der Kreise Merzig und St. Wendel wurden mit den einst bayerischen Kreisen Homburg und Zweibrücken zusammengelegt, sodass die gesamte saarländische Montanindustrie inklusive der Wohnorte der Arbeiterschaft innerhalb der neuen Gebietskörperschaft angesiedelt war. Der Grund dafür lag in den von Georges Clemenceau durchgesetzten Kompensationsansprüchen für die erlittenen Kriegsschäden. Ihm wurden die ehemals preußischen Saargruben und somit der bedeutsamste Wirtschaftszweig der Region zugesprochen. Auf diese Weise avancierte der französische Staat schlagartig zum Arbeitgeber von ca. 70.000 Personen. Dies hatte in der Folgezeit nicht nur Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch auf die Lebenswelt der einzelnen Bergarbeiter-Familien.[Anm. 11]

An der Spitze des Völkerbunds stand ein Regierungskollegium, das sich aus einem Franzosen, einem Deutschen und drei Personen einer jeweils anderen Nationalität zusammensetzte. Ihm stand zunächst der Franzose Victor Rault vor. Neben der Übernahme der Bergwerke leitete dieser eine umfangreiche Neuordnung der Bürokratie, der Presse und des Bildungswesens ein. Die Anwesenheit französischer Beamter und Militärs, der Austausch von Kommunalpolitikern, eine anfängliche Pressezensur und die Verpflichtung zu französischen Sprach- und Schulunterricht verschärfte die deutsch-französischen Spannungen - wenngleich der Wiederaufbau der Lebensmittelversorgung gleichzeitig reibungslos ablief und die Inflation die saarländische Bevölkerung durch die Währungs- und Zollunion mit Frankreich weniger schwer traf, als die Menschen in der Weimarer Republik.[Anm. 12]

Mit der Übernahme der Regierung durch den Kanadier George W. Stephens und der deutsch-französischen Versöhnungspolitik unter Gustav Stresemann und Aristide Briand trat gegen Ende der 1920er Jahre eine Entspannung der Lage ein. Dennoch hatte die französische Dominanz im Großen und Ganzen das Anwachsen eines demonstrativen Nationalismus befördert, der mehr und mehr öffentlich inszeniert und propagiert wurde. Großveranstaltungen wie zum Beispiel die Tausend-Jahr-Feier des Rheinlandes 1925 oder die „Kundgebung für die Rückgliederung des Saarlands ins Reich“ 1932 in Koblenz erscheinen rückblickend bereits als Vorspiel auf das Referendum von 1935. Doch es gab auch offene Kritik am nationalsozialistischen Deutschland – zum Beispiel von Johannes Hoffmann, dem damaligen Chefredakteur der Saarländischen Landeszeitung und späteren Ministerpräsidenten. Auch existierten interkulturelle Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen und frankophile Milieus, die das kulturelle Leben in der Stadt Saarbrücken nachhaltig prägten.[Anm. 13]

Stimmzettel zur Saarabstimmung 1935

Die „erbittert geführte politische Auseinandersetzung unter den Zeitgenossen“[Anm. 14] war nicht nur im politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben, sondern auch in der Alltagskultur virulent und gipfelte schließlich ab März 1934 in einer „Propagandaschlacht“[Anm. 15], die alle Gesellschaftsschichten direkt oder indirekt miteinschloss. Das Ergebnis dieses sogenannten Abstimmungskampfes lautete wie folgt: rund 90% der ca. 540.000 Stimmberechtigten sprachen sich für die Rückgliederung an Deutschland, knapp 8% für die Beibehaltung des status quo sowie 0,4% für die Angliederung an Frankreich aus.[Anm. 16]

Die Abstimmung am 13. Januar 1935 ist heute ein wesentlicher, teilweise vieldiskutierter Bestandteil der saarländischen Erinnerungskultur – dies zeigten zuletzt zahlreiche Veranstaltungen anlässlich des 80. Jahrestages 2015. Als „schwieriges Datum, das gleichermaßen als Mahnung wie als identitätsstiftender Gründungsakt erinnert werden kann“[Anm. 17] kann das Abstimmungsergebnis rückblickend als „Produkt gesellschaftlicher Identitätssuche“[Anm. 18] verstanden werden und die Zeit unter der Völkerbund-Verwaltung somit als Katalysator für ein heute noch existentes spezifisch saarländisches Selbstverständnis.

Die Saar kehrt heim! (Sonderbriefmarke aus dem Jahr 1935)

Vor diesem Hintergrund war die Erinnerungskultur des Ersten Weltkrieges zunächst von der deutsch-französischen Beziehung geprägt. In einer ersten mystifizierenden Phase der Erinnerung entstanden überall auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Ehrenchroniken, Kriegsdenkmäler und Gedenksteine, die den "Gefallenen des Vaterlandes" gewidmet waren. Auch in vielen saarländischen Städten und Gemeinden, wie zum Beispiel in Saarbrücken, St. Ingbert, Völklingen-Wehrden, Limbach, Neunkirchen, Dillingen, Webenheim uvm., sind sie heute noch zu finden.[Anm. 19]

Mit dem Zweiten Weltkrieg verschwand der Erste Weltkrieg zunächst förmlich aus dem Bewusstsein der Menschen, da man sich mit einer noch größeren Katastrophe konfrontiert sah. Die gemeinsame Gedenkfeier des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl und des ehemaligen französischen Präsidenten François Mitterand am 22. September 1984 markierte die weitgehend abgeschlossene Historisierung der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ in Deutschland und Frankreich und kann zweifellos als Akt der Versöhnung gewertet werden, ohne aber die Erinnerung an die schrecklichen Geschehnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu unterdrücken.

Im Gegenteil: Auch heute, 100 Jahre nach dem Krieg, ist er Gegenstand lebendiger Erinnerung und wird als Teil der regionalen Geschichte in regionalgeschichte.net reflektiert.

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Literatur:

  • Ames, Gerhard: „Ein ungeheurer Faktor ist der Bergmann im Kriege“ Die Saarbergleute und der Erste Weltkrieg. In: „Als der Krieg über uns gekommen war…“ Die Saarregion und der Erste Weltkrieg. Katalog zur Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums Im Saarbrücker Schloß. Saarbrücken 1993, S. 190–205.
  • Becker, Franz G.: ‚Deutsch die Saar immerdar!‘ Die Saarpropaganda des Bundes der Saarvereine 1919–1935. Saarbrücken 2007.
  • Gehlen, Rita. Ein Volk von Brüdern? Das ‚Augusterlebnis‘ der Menschen an der Saar. In: „Als der Krieg über uns gekommen war…“ Die Saarregion und der Erste Weltkrieg. Katalog zur Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums Im Saarbrücker Schloß. Saarbrücken 1993, S. 38–51.
  • Herrmann, Hans-Walter: 1919 – Schicksalsjahr für die Saar. In: „Als der Krieg über uns gekommen war…“ Die Saarregion und der Erste Weltkrieg. Katalog zur Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums Im Saarbrücker Schloß. Saarbrücken 1993, S. 248–265.
  • Jacoby, Fritz: Kommunale Ernährungswirtschaft im Kriege. Das Beispiel Saarbrücken. In: „Als der Krieg über uns gekommen war…“ Die Saarregion und der Erste Weltkrieg. Katalog zur Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums Im Saarbrücker Schloß. Saarbrücken 1993, S. 156–171.
  • Klasen, Katharina: Kriegsbegeisterung oder Kriegsfurcht? Das Augusterlebnis 1914 im Saargebiet. In: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 62 (2014), S. 81–104.
  • Lafer, Wolfgang: Kriegsgefangene im preußischen Saarbergbau. In: „Als der Krieg über uns gekommen war…“ Die Saarregion und der Erste Weltkrieg. Katalog zur Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums Im Saarbrücker Schloß. Saarbrücken 1993, S. 206–221.
  • Lempert, Peter: „Das Saarland den Saarländern!“ Die frankophilen Bestrebungen im Saargebiet 1918–1935. Köln 1985.
  • Linsmayer, Ludwig (Hrsg.): Der 13. Januar. Die Saar im Brennpunkt der Geschichte. Saarbrücken 2005.
  • Schwarz, Hans: Krieg an der Heimatfront. Zu den Auswirkungen des Luftkrieges auf den Großraum Saarbrücken. In: „Als der Krieg über uns gekommen war…“ Die Saarregion und der Erste Weltkrieg. Katalog zur Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums Im Saarbrücker Schloß. Saarbrücken 1993, S. 66–73.
  • Wittenbrock, Ralf: „Das gewaltigste Bollwerk unserer Westmark“ Saarbrückens Nachbarstadt Metz im Krieg. In: „Als der Krieg über uns gekommen war…“ Die Saarregion und der Erste Weltkrieg. Katalog zur Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums Im Saarbrücker Schloß. Saarbrücken 1993, S. 108–123.


Herausgeber: Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V.

Verfasserin/Red. Bearbeitung: Katharina Thielen

Anmerkungen:

  1. Max Ophüls, Spiel Im Dasein. Eine Rückblende. Stuttgart 1959, S. 36. Zurück
  2. Saarbrücker Zeitung vom 31. Juli 1914, S. 3. Zurück
  3. Ebd. Zurück
  4. Zum sogenannten Augusterlebnis siehe Klasen, S. 81–104 und Gehlen, S. 38–51. Zurück
  5. Wittenbrock, S. 110. Zurück
  6. Zur Lebensmittelsituation vgl. Jacoby, S. 156–171. Zurück
  7. Zum Bergbau im Ersten Weltkrieg vgl. Ames, S. 190–205 und Lafer, S. 206–221. Zurück
  8. Schwarz, S. 66–73. Zurück
  9. Herrmann, S. 248–265. Zurück
  10. Vgl. Linsmayer, S. 24f. und Krumeich, S. 271–274 und 285ff. und S. 293. Dafür sprechen nicht zuletzt die heldenhaften Empfänge der heimkehrenden Soldaten und die überall in Deutschland einsetzende verklärende Erinnerungskultur. Zurück
  11. Behringer/Clemens, S. 94–100. Zurück
  12. Ebd. und Linsmayer, S. 26f. Zurück
  13. Hierzu ausführlich Lempert, Peter: „Das Saarland den Saarländern!“ Die frankophilen Bestrebungen im Saargebiet 1918–1935. Köln 1985. Zurück
  14. Linsmayer, S. 13. Zurück
  15. Ebd. Zurück
  16. Zum Abstimmungskampf vgl. Becker, Franz G.: ‚Deutsch die Saar immerdar!‘ Die Saarpropaganda des Bundes der Saarvereine 1919–1935. Saarbrücken 2007. Zurück
  17. Linsmayer, S. 10. Seiner Meinung nach „ist der politische Konflikt von damals im Erinnerungskonflikt von heute weiter anwesend“ und besteht im Wesentlichen aus einem breiten Spektrum zwischen „zwei Erinnerungspositionen, die unverbunden nebeneinander existieren: die Position der ‚Warner‘, für die 1933 bereits die Saat des Bösens gelegt war, und die Position der ‚Verteidiger‘, die im ausschließlich ‚national‘ interpretierten Abstimmungstriumph von 1935 gar keinen inneren Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zu erkennen vermögen.“ Hierzu ausführlich Ders.: Die Macht der Erinnerung. In: Der 13. Januar. Die Saar im Brennpunkt der Geschichte. Merzig 2005, S. 15–112 Vgl. auch Gerhard Paul: Rezension zu: Linsmayer, Ludwig (Hrsg.): Der 13. Januar. Die Saar im Brennpunkt der Geschichte. Saarbrücken 2005 , in: H-Soz-Kult, 06.03.2006, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-6377 (Aufruf am 10.8.2017). Zurück
  18. Linsmayer, S. 10. Zurück
  19. Die hier genannten Beispiele finden sich in URL: http://www.saarland.de/dokumente/thema_bildung/OrteDesGedenkens_2015.pdf  Zurück
 
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